Wenn im Oktober vereinzelte Herbstwinde dann und wann den Smog aus der Stadt fegen, fallen nicht nur die Blätter von den Bäumen, sondern auch etliche Metalbands über Beijing her.
Alleine in diesem Monat geben sich mit Soilwork, Behemoth, Amorphis und Kreator gleich vier Szenegrößen in der Hauptstadt die Ehre. Der Grund: Viele Bands nutzen das japanische Loud-Park-Festival für einen Abstecher nach Asien und dehnen ihren Radius mittlerweile auch auf „neue“ Märkte wie China aus. Das ist nach der sommerlichen Konzertflaute einerseits natürlich erfreulich, andererseits graben sich die Bands gegenseitig ein wenig das Wasser ab. Immerhin kosten die billigsten Vorverkaufstickets 220 Yuan (ca. 27 Euro), und das ist viel in einer Stadt, in der das Durchschnittseinkommen nach wie vor bei 4.000 Yuan liegt.
Und so überrascht es nicht, dass sich zu BEHEMOTH gerade mal 250 Banger ins Yugong Yishan verlieren, von denen die meisten einen Großteil des Konzerts verpassen. Dieses beginnt nämlich ohne die obligate Verspätung, womit vermutlich erstmals in der 3.000-jährigen Hauptstadtgeschichte eine Show pünktlich anfängt. Und während sich die Fans noch verblüfft anschauen, haben die Polen bereits Standards wie 'Ov Fire And The Void' oder 'Conquer All' im D-Zug-Tempo heruntergeprügelt.
Es hat den Anschein, als ob die Band die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen will, denn insbesondere Nergal geht es offensichtlich nicht gut. Kraftlos bellt er seine Botschaften ins Mikrofon, muss zwischendurch immer wieder eine Pause einlegen und verabschiedet sich nach gerade 14 Songs ebenso schnell, wie er gekommen ist. Seine Kollegen schließen sich der allgemeinen Lethargie an und beschränken sich darauf, böse ins Publikum zu gucken. Für eine Band, die früher wie eine Horde räudiger Klingonen über ihre Instrumente herzufallen pflegte, ist das zu wenig, und auch der neue Song 'Blow Your Trumpet Gabriel' vermag keine Begeisterungsstürme hervorzurufen. Angesichts des Gesundheitszustands von Nergal und der widrigen Umstände (Jetlag, Tourstress etc.) sollte man die Sache nicht überbewerten, dennoch: Sollten sich derartige Konzerte häufen, muss man sich um den Patienten BEHEMOTH ernsthaft Sorgen machen.
Ganz anders sieht die Sache ein paar Tage später bei AMORPHIS aus. Bandkopf Esa Holopainen ist zwar ebenfalls krank und pfeift mit einer Grippe aus dem letzten Loch, wird jedoch von seinen Kollegen offensichtlich ausreichend motiviert („Der hat bestimmt Vogelgrippe.“ – „Notschlachten!“ – „Kann man ihn irgendwo in eine Sauna stecken?“).
Dementsprechend gut gelaunt erzählt Esa von den Erlebnissen der vergangenen Wochen: „Die aktuelle Tour war eigentlich der reine Wahnsinn. Wir sind zuerst durch ganz Russland gefahren und haben dabei in Städten gespielt, wo vermutlich nie zuvor eine Metalband gewesen ist. Schau mal auf der Karte, wo Orte wie Tomsk oder Krasnodar liegen, dann weißt du, was ich meine. Über St. Petersburg ist es quer durch Sibirien über Irkutsk nach Novosibirsk gegangen; teilweise mussten wir dabei über 20 Stunden am Stück mit dem Bus fahren.“ Dagegen wirken die folgenden Abstecher nach Australien und Japan wie Urlaub, und die beiden China-Shows in Shanghai und Beijing sind für Esa ohnehin ein ganz besonderes Abenteuer: „Wir waren noch nie hier, und vor einem neuen Publikum zu spielen gehört zu den Kicks, die uns als Band nach wie vor am Laufen halten. Als wir „Tales From The Thousand Lakes“ herausgebracht haben, hätte ich mir jedenfalls nicht gedacht, 20 Jahre später einmal in China zu spielen.“
Doch genau so passiert es, wobei es den Finnen sicherlich zugutekommt, dass sie in ihrer Karriere vermutlich noch nie einen schlechten Gig gespielt haben. Spätestens seit dem Einstieg von Sänger Tomi Joutsen sind sie dazu genetisch unfähig, und nach dem Eröffnungsdoppel 'Shades Of Grey' und 'Narrow Path' ist bereits klar: Beijing und AMORPHIS, das geht gut. Die gesamte Band ist hochmotiviert, zeigt keine Spur von Tourmüdigkeit und rockt stattdessen dermaßen beherzt los, dass die immerhin knapp 350 Fans sofort steil stehen. Perlen wie 'Sampo' oder 'My Kantele' laden zwar eher zum Schwelgen denn zum Moshpit ein, doch in China werden keine halben Sachen gemacht und schon bald liegen die ersten Bekloppten mit verknoteten Gliedmaßen in der Ecke.Die Setlist ist vom Allerfeinsten, neben lange nicht gehörten Classics wie 'Against Widows' oder 'Drowned Maid' knallt vor allem 'The Smoke' wieder mal höllisch – angesichts der Luftqualität in Beijing ohnehin die heimliche Nationalhymne. Passend dazu kreisen in der ersten Reihe diverse überproportionierte Tüten, nach deren Genuss einige handtellergroßer Pandaaugen verliebt in Richtung Tomi Joutsen gucken. Der Typ ist allerdings auch eine coole Sau, die stimmlich alles draufhat und mit seinen Zwei-Meter-Rasta-Tentakeln über einen beträchtlichen Aktionsradius verfügt. Ein Fotograf im Graben bekommt das zu spüren, als ihm der Meister bei einer Headbang-Attacke direkt die Kamera aus der Hand peitscht. Bei der nächsten Einreise nach China wird er für seine Haare vermutlich einen Waffenschein beantragen müssen. Die Mädels kreischen trotzdem, bei 'House Of Sleep' gibt‘s Stadionchöre (na gut, so was in der Art halt) und das Publikum feiert die Band mit „Morphis! Morphis!“-Rufen ab. Kein Wunder, dass auch der angeschlagene Esa nach der Show übers ganze Gesicht strahlt, auch wenn ihn nach getaner Arbeit der Hunger plagt: „Hoffentlich ist das Essen besser als in Shanghai. Dort hatten wir gestern süßsaure Froschsuppe…“
Über den Autoren:
"Wu Gang" (geboren 1978 in Schladming, Österreich) lebt und arbeitet seit 2010 in China. Zuvor erledigte er journalistische Arbeiten im Print- und Radiobereich (u.a. als Moderator der Metal-Sendung „Block Rockin´ Beats" auf Radio Soundportal). Der Liebhaber von Tool, Depeche Mode, Ministry, Massive Attack, Isis und Anathema schätzt an China vor allem „die Dynamik und das Potenzial, dass hier jeden Tag etwas völlig Wahnsinniges passieren kann“. Ergänzend zu unserem Heftspecial über Metal in China versorgt uns Wu Gang regelmäßig mit exklusiven Blogs für unsere Website.
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Pics: Wu Gang